Leben lesen

Foto: Getty Images/iStockphoto/sigoisette

Gern halte ich mich für eine Pragmatikerin. Für eine Anpackerin — eine, die nicht lange nachdenkt.

Doch das stimmt nur zum Teil. Für den anderen Teil gilt: Ich bin eine Büchervorbereiterin, eine, die alles einmal durchlesen und durchdacht haben will, bevor sie anfängt. Wann immer etwas Neues, finden Unmengen Bücher zum Thema in meine Wohnung, sammeln sich offene Tabs in meinem Browser, füllt sich der Podcast-Speicher mit lehrreichen Episoden.

Dass ich nur einen Bruchteil davon lese oder höre, versteht sich von selbst.

Ein Leben in Ratgebern

Die folgenden Themen habe ich in den zurückliegenden dreißig Jahren durchlebt (Angaben unvollständig), folgende Bücher zu diesen Zeiten gekauft (sowas von unvollständig):

  • »Coach dich selbst, sonst coacht dich keiner«

  • »Der gebrauchte Prinz«

  • »Steuererklärung für Selbstständige«

  • »Leben mit Depressionen«

  • »Wenn ein Partner Krebs hat«

  • »Merles Tür: Lektionen von einem freidenkenden Hund«

  • »Das Leben ist ein vorübergehender Zustand«

Während ich versichere, dass zwischen Themen und Büchern Zusammenhang besteht, darf die geneigte Leserschaft raten, welches dieser Bücher noch immer ungelesen im Regal steht.

Können Ratgeber helfen?

All das mag charmant und lustig sein, aber letztlich stellt sich vor allem eine Frage: Helfen Ratgeber?

Sicher, sie geben Rat. Sicher, für etwas Handfestes wie Gartenarbeit oder die Erstellung einer Webseite können sie sinnvoll sein — wobei Letzteres wohl eher anhand von online-Tipps erarbeitet wird. Zeitlose Themen funktionieren als Buch, Schnelllebiges eher im Netz.

Bei emotionalen Themen helfen sie mir wenig. Letztes Jahr habe ich meine Hündin Polly verloren. Sie lebt (höchstwahrscheinlich) noch, ist aber weggelaufen und für mich wohl nicht mehr erreichbar.

Es war furchtbar. Ich hatte das, ohne Hilfe nicht durch meine Trauer zu kommen. Also mussten Bücher her — Bücher von und über Menschen, die schwere Verluste erlitten hatten — und es überlebten.

Immer wieder frage ich mich, warum ich glaube, dass diese Berichte mir helfen könnten. Will ich abkürzen, will ich schummeln? Will ich sagen können: »Ach, das kenne ich, davon hab ich gelesen — wir können gleich zum nächsten Schritt gehen!« Will ich die Trauer schneller, kürzer, weniger tief fühlen? Kann ich meine Gefühle austricksen, mich an der Trauer vorbeischummeln, die überall geduldig auf mich zu warten scheint? Frei nach dem Motto »Ich lese, also fühle ich (vielleicht weniger)«?

Drei Wege, auf denen Bücher (mir) helfen

Überraschung: Abkürzen klappt nicht. Ich habe all diese Bücher gelesen und bin dennoch immer wieder von Trauer überwältigt worden.

Und doch war es nicht ganz umsonst — drei Dinge haben geholfen. Zum einen, wenn ich plötzlich die perfekten Worte für das las, was namenlos in mir wühlte. Spätestens seit Rumpelstilzchen ist klar, dass etwas, das wir benennen können, weniger Macht über uns hat.

Zum anderen wurden die Bücher von Menschen geschrieben, die das Schlimmste offenbar hinter sich haben. Das Buch in meiner Hand ist der greifbare Beleg: Es geht weiter.

Also: Helfen solche Bücher? Mir nur bedingt — ich muss trotzdem meinen Weg durchfühlen. Das Erleben, das Trauern wird nicht leichter.

Aber hier ist die dritte Art, in der Bücher (mir) helfen können: Indem sie mir einen Gedanken, einen Satz schenken, an den ich mich erinnere und der mir genau dann guttut. Ein Satz von Stephen King schafft es inzwischen immer wieder. Jedes Mal, wenn die Trauer plötzlich wiederkommt, kommt er mir in den Sinn: »Grief is like a drunken house guest, always coming back for one more goodbye hug.« Und auf einmal ist es ein wenig leichter, manchmal muss ich bei der Vorstellung sogar lächeln.

Und mehr geht wohl kaum.


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Warum Bücher (nicht) warten dürfen

Kaufen und Lesen: getrennte Welten

Es gibt dieses Missverständnis zwischen Lesern und Nichtlesern: dass man Bücher kauft, um sie zu lesen. Daraus entstehen kann – im besten Falle – Neugier auf einen Menschen, der ein Buch kauft, obwohl sein »Mein nächstes Buch«-Regal sich bereits unter der Last der wartenden Bücher krümmt. Irritation und Unverständnis – damit lässt sich irgendwie umgehen. Unwille, Unmut – wenn man Konto und/oder Regale teilt.

Natürlich kauft man ein Buch, um es zu lesen. Nur eben nicht sofort. Vielleicht auch nicht bald. Manchmal nicht in den kommenden Jahren.

Die Erklärung ist einfach: Das Kaufen und das Lesen von Büchern sind zwei völlig verschiedene Dinge. Manchmal besteht ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen beiden – oft nicht.

Es ist wichtig, viele Bücher zu haben (nicht irgendwelche!), denn – und hier kommt die zweite Erklärung zur Auflösung des Missverständnisses – jedes Buch hat seine Zeit. Jawohl. Notwendige Konsequenz daraus: Das Buch muss da sein, wenn seine Zeit gekommen ist.

Im Englischen gibt es den wunderbaren Satz: »It’s not hoarding when it’s books.«, der sich nur unzulänglich ins Deutsche übersetzen lässt: »Es ist kein Horten, kein Ansammeln, wenn es sich um Bücher handelt.« Es ist reine Logik, pure Notwendigkeit. Weshalb man auch kaum zu viele Bücher haben kann.

Ernster und berührender Kontrapunkt: Lizzie Doron, eine israelische Autorin, hat ihre Bibliothek im Schutzraum des Hauses eingerichtet. Dort ist sie – die Bibliothek – bei Angriffen sicher. Und bei Luftalarm flüchtet Doron dorthin: mit Leib, Seele und Geist.

Was darf bleiben?

Von den ungelesenen Büchern zu den gelesenen: Welche behältst du? Und warum? Ich versuche, nur Bücher zu behalten, die mir etwas bedeuten (neben denen, die noch auf ihre Zeit warten). Die, deren Geschichte mich berührt hat, die von einer besonderen Figur erzählen, oder die – und das ist der häufigste Fall – Zitate bergen, die ich nicht verlieren möchte.

Ein solches Zitat wird mit Bleistift markiert, die Seite mit einem Papierschnipsel wieder auffindbar. Ich liebe es, wenn mein Blick über die Buchrücken wandert (wahrscheinlich auf der Suche nach dem Buch, dessen Zeit gekommen ist), und an einem dieser sichtbaren Schnipsel hängenbleibt: »Oh, welches Buch ist das? Und welcher Gedanke war darin?« Mal fällt es mir gleich ein, mal ziehe ich das Buch zwischen seinen Nachbarn heraus, öffne es auf der beschnipselten Seite, suche die markierte Stelle – und freue mich, als würde ich in einer Menge einen vertrauten Menschen entdecken.

Am liebsten und immer wieder bleibt mein Blick an Friedrich Ani hängen. Es ist eines der wenigen Bücher, die nur einen Schnipsel in sich tragen, doch der ist umso wichtiger für mich. Ich muss das Buch nicht einmal aufschlagen, der Satz ist sofort da. Und ich weiß, ich hätte diesen Text runder abschließen können, ich weiß, der Satz hat nichts mit Büchern zu tun – aber er kommt aus einem Buch, das seine Zeit vor vielen Jahren hatte. Und das immer seinen Platz in meinem Regal haben wird, weil es diesen Satz, diesen Schatz, in sich trägt: »Nimm dein Leben nicht zu persönlich.«


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