Es gibt ja immer Dinge, die man nicht bedenkt. Enge Gassen? Wie romantisch! Italienerinnen in stilvollen Klamotten und Stilettos? So toll! Beides kombiniert ab sieben Uhr morgens vor dem Hotelfenster – geht so. Aber die Armen in High Heels müssen schließlich arbeiten gehen, während ich mich noch einmal umdrehen kann; Frühstück gibt es erst ab acht.
Nach dem Auschecken startet »Mission Markusplatz – Teil 2«, dafür muss ich das venezianische Oval erneut durchqueren. Und später noch einmal, denn Josi will um 16 Uhr aus dem Parkhaus ausgelöst werden. Fünfeinhalb Stunden – da sollte doch was gehen.
Es dauert keine fünf Minuten, da bin ich erneut in den Gassen und Gässchen verloren. Zwar habe ich aus dem Hotel das obligatorische Stadtplanabreißblatt mitgenommen, das auch wirklich vielversprechend aussieht, aber zum einen gibt es nicht überall Straßen… äh, Gassennamen (Was macht eigentlich eine Straße zur Straße?), zum anderen schaue ich doch meist nach links und rechts und oben, weil es einfach so viel zu sehen gibt. Die Verzierungen an Türen und Toren. Die schmalen Kanäle, in denen Boote auf ruhigem Wasser ausruhen.
Die schwarz-glänzenden Gondeln, deren Sitze und Dekorationen so prachtvoll sind, als dürften sie nur hochherrschaftliche Passagiere aufnehmen.
Die kleinen Fische, die sich unter den Booten tummeln – vor Corona waren sie angeblich jahrzehntelang nicht zu sehen.
Die Hunde, die Gassi geführt werden – aber wohin? Alle in die gleichen drei Parks? Und haben sie hier Platz zum Rennen, oder geben mir die dicken Exemplare die Antwort auf diese Frage?
Was mich total erstaunt, ist die Menge an Holz, die ich in dieser Stadt sehe – nicht nur in den Wohnungen. Gestern konnte ich nach Einbruch der Dunkelheit einer meiner Leidenschaften frönen: in erleuchtete Fenster, Wohnungen und Leben schauen. Neben kleinen, niedrigen vollgestellten Zimmern, in denen tatsächlich IKEA-Möbel standen (in Venedig!) gibt es die Palazzos und Wohnungen, die das Äquivalent zu den märchenhaft ausgestatteten Gondeln bilden: hohe Räume mit bodentiefen Fenstern, die den Blick freigeben auf große Ölgemälde und Zimmerdecken aus alten, massiven Holzbalken.
Das meiste Holz gibt es freilich unter der Wasseroberfläche: Die Stadt ruht auf Millionen von Holzpfählen, die durch schlammigen Lagunenboden in den festen Lehmgrund getrieben wurden. Etwa 25.000 Pfähle sollen allein die Rialto-Brücke tragen.
Der Mangel an Touristen macht den Blick frei auf das Alltagsleben der Venezianer – und all die Vor- und Nachteile des Lebens in diesem architektonischen Wunder. So kann der Paketbote zwar eine ganze Ladung Kisten in einem coolen gelben DHL-Boot herumfahren, muss diese dann aber zu Fuß durch das Gassengewirr zum Empfänger tragen.
Umzüge mit Boot sind sicher charmant, aber auch hier kann der Weg zur Haustür weit sein – und ist ganz sicher von Brücken unterbrochen. Und wo Brücken sind, sind Stufen. Die allgemeine Empfehlung, täglich mehr als 10.000 Schritte zu gehen und Treppen zu steigen, können Venezianer getrost ignorieren. Sie können gar nicht anders. Dass Lieferanten, alte Menschen mit Rollatoren und Eltern mit Kinderwagen an diesen zahllosen Stufen nicht wahnsinnig werden, ist mir allerdings ein Rätsel.
Ich gehe weiter in die Richtung, in der ich den Markusplatz vermute, als mich das Klappern von Leergut in Gestalt eines jungen Mannes überholt. Natürlich ist er ebenfalls bestens angezogen; als armer Mensch scheint man hier nicht leben zu können. Er gesellt sich zu einer Gruppe von Menschen, die corona-gerechten Abstand voneinander halten und vor einem fast versteckten Ladeneingang warten. Ein coop! Kein Wunder, dass er sich versteckt; ein Supermarkt passt so gar nicht in das Bild der historischen Altstadt. Aber natürlich wird er gebraucht – ebenso wie der Mini-Baumarkt zwei Gassen weiter. Alles ist da.
Sogar irgendwann der Markusplatz, es gibt ihn wirklich! Obwohl er es eigentlich kaum sein kann. Ein fast menschenleerer Platz, auf dem sich die Tauben entspannt ausruhen können? Unvorstellbar! Aber wahr.
Traurig, aber ebenso wahr ist die Situation der Gondoliere in diesen Wochen. Kaum Touristen, also kaum Fahrgäste – und trotzdem sitzen viele von ihnen bei ihren Booten. Zumindest einen Gondoliere kann Gynsburgh ein wenig aufheitern.
Mit den Alpen lasse ich das trübe Herbstwetter hinter mir; je näher ich Venedig komme, umso schöner wird das Wetter. Eigentlich wollte ich die Stadt ja mystisch in waberndem Nebel erleben, aber ich denke, ich werde mich nicht beschweren.
Wie immer habe ich mich nicht vorbereitet, weiß also nicht, wie weit ich mit Josi komme, wo die Straßen aufhören und die Kanäle beginnen. Überhaupt kann ich mir noch gar nicht vorstellen, dass es tatsächlich gar keine Straßen geben soll. Die Kanäle können doch unmöglich vor jedem Haus entlang fließen, sodass überall Boote festmachen könnten. Wie werden Waren geliefert, wie legen die Venezianer größere Strecken zurück? Klein kann die Fläche, auf der immerhin knapp 52.000 Menschen leben, nicht sein. Und wo werde ich schlafen? Gibt es Wiesen, Parks, dunkle, aber sichere Ecken für mein Zelt? Nun, die Antworten liegen am anderen Ende der bestimmt drei Kilometer langen Brücke, über die ich neben überraschend wenigen Autos, einem Zug und einer Tram vom Festland in die Lagunenstadt fahre.
Angekommen!
Und dort findet tatsächlich alles Motorisierte ein Ende: Zug und Tram fahren zurück, Autos werden in Parkzonen abgestellt oder in eines der Parkhäuser gefahren. Eine Weile suche ich nach einem Plätzchen, auf dem ich Josi samt Zelttasche stehen lassen könnte, gebe aber bald auf und fahre ebenfalls in ein Parkhaus. Das ist mit 15 Euro für 24 Stunden günstiger als befürchtet und außerdem videoüberwacht, sodass ich bis auf eine Tasche alles dort lassen kann.
Sehr schön. Und überhaupt: Es ist trocken, warm, windgeschützt und sicher – bis auf die Kameras hat es also fast alles, was ich an einer Schlafstätte schätze. Ob ich vielleicht neben Josi…? Ich würde schließlich niemanden stören… Ich frage mich durch alle Parkhausangestellteninstanzen – vergebens. Nicht so schön, aber leider logisch, denn sonst würden sich wohl alle Obdachlosen hier einnisten. Gut, es wird sich schon was finden, notfalls krabble ich in ein Boot. Aber jetzt geht es erst einmal los!
Venedig…
Der erste Kanal ist nicht weit – und alles sieht aus wie in Venedig. Verrückt! Kleine Brücken, Wasser, in dem sich der Himmel spiegelt, Boote, die links und rechts befestigt sind, schmale Wege, die an süßen Geschäften vorbeiführen. So schön!
Und doch anders als Bilder, Erzählungen und Vorstellungen von Venedig, denn die Boote sind zugedeckt, die Fahrrinne leer, die meisten Geschäfte geschlossen und die Wege fast menschenleer. Corona verändert die Stadt vollkommen, und ich muss gestehen, dass ich es liebe. Venedig ohne Touristenmassen? Das war vor Corona doch eine Utopie! Nun aber kann ich durch die Gassen schlendern und staunend in alle Richtungen schauen, ohne jemanden anzurempeln. Kann das Telefonat der Italienerin auf der anderen Seite des Kanals belauschen (wobei ich zugebe, dass ihre Stimme wohl auch über Menschenmengen zu mir gedrungen wäre) und höre die klassische Musik aus einem exquisiten Lederwarengeschäft.
Von wegen Orientierungssinn …
Ich bin ohne Stadtplan unterwegs, weil ich angenommen habe, dass mein recht anständig ausgeprägter Orientierungssinn mich schon zum Markusplatz bringen wird – ich muss einmal quer durch die Stadt. Schon bald hat sich diese selbstgefällige Einschätzung erledigt. Weder Bauchgefühl noch Sonnenstand helfen, wenn die Gasse, in die man voller Zuversicht eingebogen ist, eine Kurve macht, an einer Wand endet oder an einem Kanal – ohne weiterführende Brücke. Oder mit einer Brücke, an der gerade gebaut wird. Nun gut, dann also mit Google Maps im Ohr, damit ich weiter schauen und staunen kann. Doch auch hier tauchen unerwartete Schwierigkeiten auf, denn zum einen erkennt einige Tücken Venedigs ebenso wenig wie ich, zum anderen ist das Italienisch dieses Programms einfach grauenhaft. So wird das nichts.
Also gebe ich das Ziel auf und genieße den Weg. Den Hund, der – die Schnauze durch das Balkongitter gesteckt – die Coronaruhe genießt. Die Venezianerin, die ihr Klingelschild poliert. Die Angestellte einer Polsterei, die selbstvergessen an einem Stuhl arbeitet. Und die wenigen Läden, die doch geöffnet haben und zumeist kreative Maskenkollektionen präsentieren. Und könnt ihr glauben, dass ausgerechnet der Mann, den ich wegen seiner Maske fotografiere, Gondoliere im Ruhestand ist? Ist er.
Weil es inzwischen dunkel wird, der Markusplatz offenbar in einem Paralleluniversum liegt, ich wieder zurück zum Parkhaus muss und die Übernachtungsfrage noch ungeklärt ist, drehe ich um. Weil ich zusätzlich auch noch Hunger habe, kommt mir das kleine Restaurant gerade recht, das coronabedingt zwar in 35 Minuten schließt, mir aber fix einen Apérol und Bruschetta bringt. Neben mir sitzen zwei Frauen, die angeregt plaudern – auf deutsch. Ich genieße still meine Bruschetta, bis mir eines aufgeht: Die sehen nicht aus, als würden sie in einem Boot oder in einer Gasse schlafen. Ergo: Mindestens ein Hotel muss noch offen sein! Ich war davon ausgegangen, dass alle geschlossen sind! Ich frage sie, wo sie übernachten – worauf sie zunächst sehr allgemein antworten und dann ihr angeregtes Plaudern einstellen. Hätte ich geheime Dinge erfahren, wenn ich mich nicht als deutschkundig geoutet hätte?
Egal. Da Josi und alles Zubehör im Parkhaus gut aufgehoben sind, buche ich mir für 28 Euro ein Zimmer im Hotel Florida (!). Es stellt sich als Mehrbettzimmer heraus, das ich allein für mich habe – buona notte!
Du willst Einblicke in das echte Venedig? Dann empfehle ich dir den Newsletter “Reskis Republik” von Petra Reski. Die Journalistin und Autorin lebt in Venedig – hier bekommst du einen Eindruck: