Berliner, Münchner und Hamburger müssen jetzt ganz stark sein: Ihr lebt nicht im Mittelpunkt der Erde. Der Mittelpunkt der Erdoberfläche liegt nämlich – wissenschaftlich festgestellt – in der Türkei. In der Stadt Çorum in der gleichnamigen Provinz, um genau zu sein. Wie das berechnete wurde*, erschließt sich mir zwar nicht, aber da ich vor Kurzem durch Çorum gekommen bin, ist es der perfekte Aufhänger für diesen ersten längeren Bericht aus der Türkei, oder?
Ach, und gleich noch etwas Klugscheißerwissen (ihr wisst ja, ich kann nicht anders): Nur 17 Prozent der Türkei liegen in Europa, der Rest in Asien.
* für Nerds: „Geometrisch exakter formuliert, ist es der Flächenschwerpunkt innerhalb der zweidimensionalen sphärischen Oberfläche der Erde, wobei vereinfachend ein Geoid als geometrische Form angenommen wird und die Reliefstruktur der Landflächen als flache Ebenen idealisiert werden.“ (Wikipedia)
Hals über Kopf verliebt
Ich hab es vorher nirgendwo geschrieben, weil ich mir ein bisschen schäbig und fast rassistisch vorkam, aber: Ich hatte Schiss davor, in die Türkei zu fahren. Ich war nie vorher dort, war auch noch nie in einem anderen muslimischen Land. Ich hatte Schiss vor all dem wirklich, wirklich Fremden, und vielleicht hat sich auch das eine oder andere Vorurteil in mir geregt. Mit Beschämung habe ich festgestellt, dass ich in meinem Leben bisher einen Türken näher kennengelernt habe – einen Arbeitskollegen in Berlin. Ist das nicht furchtbar? Lebe ich mit Scheuklappen oder tatsächlich in einer der ach so berühmten Blasen? Nach meiner Rückkehr werde ich meinen Alltag daraufhin überprüfen.
Fakt ist, dass Menschen und Land es von Anfang an unmöglich gemacht haben, Schiss und Vorurteile weiter mitreisen zu lassen. So viel unmittelbare und grundlose Freundlichkeit habe ich noch nie erlebt. Kein Mensch kann so viel Tee trinken, wie einem hier angeboten wird – sei es nach dem Tanken, beim Einkauf am Obststand oder beim Fotografieren eines großartigen Wortes an einem Schaufenster (die Linguistin in mir reist offenbar weiter mit):
Die Teehäuser
Womit wir gleich in die Teehäuser gehen können, die vor allem in Dörfern den Männern vorbehalten sind. In Dörfern sieht man überhaupt fast nur Männer: Ihnen gehört die Außenwelt, den Frauen die Wohnbereiche.
Bei einer Übernachtung am Strand wurde ich nach erfolgreichem Zeltaufbau vom augenscheinlichen Besitzer in ein Teehaus gewunken und durfte dort Çay in den typischen kleinen Gläsern genießen.
Auf Nachfrage kann man (meist) auch einen Kaffee bekommen. Aber das eigentliche Nationalgetränk der Türkei ist überraschenderweise der schwarze Tee.
Ich saß am vorderen Tisch, zunächst noch in Gesellschaft eines knapp 65-jährigen Herrn, der es sich nicht nehmen ließ, meine beiden Çay zu bezahlen. Das anzunehmen war wohl missverständlich, denn er versuchte dann, erst meine Telefonnummer zu bekommen und mir dann seine anzudrehen. Als aus Beidem nix wurde, ging er.
Eine Weile war ich allein, dann schien nach und nach die gesamte männliche Dorfbevölkerung aller Altersgruppen einzutreffen. Der Raum füllte sich – bis auf meinen Tisch, an dem blieb ich allein. Ach übrigens: Wer auch immer behauptet hat, Männer hätten wenige Worte, hat die Türken vergessen. Die reden und reden und reden miteinander – ich frag mich, ob es hier überhaupt Psychotherapien braucht!
Diese Teehäuser sind keine Kneipen ohne Alkohol. Hier tauschen die Jungs sich aus, spielen Karten oder Rummikub (ehrlich!) oder sitzen einfach da und schauen den anderen zu. Ich glaube nicht, dass es Männer gibt, die allein zu Hause sitzen.
Genussmittel
Und es wird geraucht wie verrückt – ich hatte schon ganz vergessen, wie sehr Klamotten stinken können!
Wo wir gerade bei Genussmitteln sind: der Zucker. Es ist unglaublich, welche Mengen davon in den Çay kommen und wie viel so gesüßter Tee getrunken wird. Dazu werden ein süß-klebriger Bonbon oder ein Gebäckstück gereicht.
Der Zucker wird nicht einfach in den Tee gerührt, sondern zwischen die Zähne gelegt. Der Tee wird dann hindurchgeschlürft. Während Psychotherapeuten oben jubeln konnten, dürften Zahnärzte hier von kaltem Grauen gepackt werden. Tatsächlich habe ich so viele schlechte, braune und angefressene Zähne in lächelnden Gesichern gesehen, dass ich kurz überlegt habe, eine Bonusheft-Spendenaktion zu starten.
Auch im Rest des Körpers wirkt der Zucker: 90 Prozent der türkischen Bevölkerung leiden unter Diabetes Typ II. 90 Prozent!!!!!!
Alkohol bekommt man in den größeren Städten in Bars und Supermärkten. Im Supermarkt einer mittelgroßen Stadt war die Antwort auf meine Frage nach Wein: “Ja, fahren Sie einfach 15 Kilometer in diese Richtung!” Och nö, so dringend ist es dann doch nicht.
Frauen
Auf Facebook wurde ich gefragt, wie stark Frauen im Straßenbild vertreten sind. Die Antwort ist “Es kommt darauf an”. In mittleren und größeren Städten ist kaum ein Unterschied zu deutschen Städten festzustellen – Frauen sind so unterwegs wie bei uns auch. Kaufen ein, rauchen auf Parkbänken, machen Selfies, fahren Motorrad. Und all das in Kleidung von konservativ mit Kopftuch bis supersexy mit langem, offenen Haar.
Nach der doch recht unerwarteten Charme-Offensive des älteren Herrn im Teehaus hab ich ins Netz geschaut und gelesen, dass alleinreisenden europäischen Ladys in der Türkei oft unterstellt wird, sie seien auf der Suche nach Abenteuern der besonderen Art (also, der ganz besonderen – keine Motorradabenteuer). Damit wollte ich mich nun nicht ständig konfrontiert sehen. Die Tatsache, dass ich fast blond und dazu noch mit Motorrad und Hund unterwegs bin, fordert so Manchen schon genug. Also hab ich mir bei dieser lieben Dame meine ersten Schaltücher gekauft.
Sie fragte so interessierte nach meiner Reise, dass ich sie fragte, ob sie auch reisen wollte. Ihre Antwort war denkbar bodenständig: “Wie kann ich reisen? Ich bin doch hier!”
Kaffee und Aberglaube
Tatsächlich habe ich das Gefühl, weniger angestarrt zu werden. Auch Gespräche mit Männern scheinen entspannter. Als ich an einer Tankstelle Rast machen wollte und nach Kaffee fragte, erntete ich nur bedauerndes Kopfschütteln – kein Kaffee. So richtig begreifen kann ich das noch immer nicht.
Beim Hinausgehen fiel mein Blick auf diese Amulette, die ich schon an anderen Orten gesehen hatte.
Spannend finde ich, dass die Amulette teilweise an Gebetsketten hängen – hier werden verschiedene spirituelle Richtungen munter gemischt.
Meine Frage nach ihrer Bedeutung beantwortet der Tankwart mit: “Das ist so ein Aberglaube, das soll den bösen Blick abwehren.” (An dieser Stelle ein mehr als verdientes Hoch auf google translate!) Fast entschuldigend fügt er hinzu: “Aber es ist nur ein schwacher Aberglaube.” Ich grinse: “Naja, ganz so schwach doch nicht: Die Amulette werden verkauft, Kaffee nicht.” Da muss er auch grinsen.
Ich verlasse die Tankstelle ohne Kaffee. Zu meinem Picknick trinke ich Wasser, bis der nette Mensch mit dieser Dose kalten, (natürlich) gesüßten Kaffees um die Ecke kommt und sie mir schenkt. Und was soll ich sagen? Das schmeckt sogar!