Schon im Mai, auf dem Weg durch den Iran und ins Pamir-Gebirge, habe ich mich in die Türkei verliebt. Nie war sie auf meiner Liste möglicher Reiseziele, ich habe mit ihr nur viele Deutsche an vollen Stränden verbunden. Dass die Türkei ein atemberaubend schönes Land mit freundlichen, witzigen Menschen und leckerem Essen ist, musste ich – im wahrsten Sinne des Wortes – erst erfahren.
Die Türkei schafft es, dass Pollys Verlust immer mal wieder für einige Augenblicke in den Hintergrund tritt und ich einfach nur staune – manchmal sogar genieße.
Das Baden im kristallklaren Marmarameer war so ein Moment.
Strategien
Während ich fahre, versuche ich, mich daran zu erinnern, dass ich das Alleinreisen vor Polly mochte, es mir gar nicht anders vorstellen konnte. Ich hoffe, dass ich davon etwas zurückholen kann, bin aber derzeit weit davon entfernt. Da ist einfach “diese Lücke, diese entsetzliche Lücke”, wie Joachim Meyerhoff so perfekt schrieb.
Um dem Gefühl, allein durch die Weltgeschichte zu taumeln, etwas entgegenzusetzen, schaffe ich mir Rituale: Ich bleibe länger an Orten, die mir gefallen, kaufe immer im gleichen Laden ein, esse immer im gleichen Lokal. So werden Gesichter vertraut und ich bald mit einem Lächeln des Wiedererkennens begrüßt. Das tut mir gut.
Warum ich nicht einfach nach Hause fahre? Nun, zum einen ist meine Wohnung noch bis Ende November untervermietet. Und zum anderen gibt es Zwischenziel, das mein Herz froh macht: Zu meinem Geburtstag Ende Oktober treffe ich meinen Mann Bill in Griechenland. Es wird nur für ein paar Tage sein, aber wir werden einen seiner Kindheitsträume wahrmachen – ich kann es kaum erwarten!
Wie enthunde ich meinen Blick?
Mir war nicht bewusst, dass ich durch eine Hundemama-Brille auf die Welt schaue; ich bin sicher, dass es jedem Menschen mit Hund ebenso gehen würde. Sehe ich eine Wiese, lächle ich bei der Vorstellung, wie Polly ihre Schnute durch das Gras schieben würde. Sehe ich Dreck, verdrehe ich die Augen: Sie hätte sich mit Sicherheit genüsslich darin gewälzt. Wasser? Niemand schlabbert Wasser so laut und so freigiebig wie meine Dicke – Pflanzen wären an ihrem Wassernapf immer gut gewässert gewesen.
Und erst all die einsamen Straßen, auf denen sie vorneweg gelaufen wäre! Jeden Meter hier am Marmarameer hätte sie geliebt.
Im Elburs-Gebirge, das wie ein Wall zwischen dem Kaspischen Meer (auch liebevoll „Kaspi-Meer“ genannt) und dem Rest des Irans liegt, sind wir einmal bis weit nach Mitternacht durch eine entlegene Region gefahren. Meist ging es bergab, sodass ich mit ausgeschaltetem Motor durch die Stille hinter ihr her rollen konnte. Der Vollmond hat alles sanft beleuchtet. Ich glaube, sie war ebenso glücklich wie ich.
Und erst die Katzen überall! Polly hat nie einer etwas getan (eher eine bekrallte Pfote über die Nase gezogen bekommen), aber sie muss ihnen einfach hinterherflitzen wie ein Kind den Stadttauben. Dass es sich nun ausgerechnet Katzen auf Molly und im Beiwagen gemütlich machen, ist eine Ironie dieser Reise.
All das macht das Unterwegssein ohne sie manchmal so schmerzhaft, dass ich am liebsten nur Autobahn fahren möchte. Bin ich dann auf einer, fällt mir wieder ein, warum es AUTObahn heißt und warum ich es schrecklich finde. Pest oder Cholera, einmal mehr.
Türkei oder Iran?
Oft denke ich: Polly hat sich mit dem Iran ein doofes Land ausgesucht, die Türkei wäre besser gewesen. Hier sehe ich viele Hunde, die entspannt und frei leben. Die meisten haben einen Clip am Ohr, der anzeigt, dass sie tierärztlich betreut werden. Für viele Hunde ist das ein Hundeleben im besten Sinne – ganz sicher für alle, denen das Leben auf der Straße im wahrsten Sinne des Wortes im Blut liegt.
Angesichts der aktuellen Entwicklungen in beiden Ländern wäre es wohl die Entscheidung zwischen Pest und Cholera gewesen: In der Türkei plant Erdogan ein Gesetz gegen Straßenhunde, dem Iran drohen Angriffe aus Israel. Beim Gedanken an Letzteres wird mir schlecht – ich würde am liebsten umdrehen und die Suche nach Polly wieder aufnehmen.
Doch selbst, wenn ich wieder ins Land käme: Wo sollte ich suchen? Hätte sie sich inzwischen irgendwo blicken lassen, hätte ich es erfahren. Außerdem naht der Winter, und meine Antidepressiva reichen auch nicht ewig. Für alles ließe sich eine Lösung finden – wenn eine Suche denn Sinn ergäbe. So bleibe ich mit Menschen, Tierheimen und Tierschutzvereinen zwischen Yazd und Isfahan in Kontakt und hoffe.
Idiotische Hoffnung
Manchmal stelle ich mir vor, dass Polly auf dem Weg nach Kiel ist, nach Hause. Ich weiß, es ist Quatsch, einfach absurd, aber ein Teil von mir hofft darauf. Dann google ich Berichte von Hunden, die allein nach Hause gelaufen sind, suche die weiteste zurückgelegte Strecke, recherchiere, wie weit Hunde am Tag laufen können, checke die Entfernung Varzaneh-Kiel und wie lange Polly dafür brauchen würde. Demnach könnte Polly in den kommenden zwei Wochen in Kiel ankommen … Total bekloppt, ich weiß. Und dennoch in mir.
Straßenhunde unterwegs
Es ist wohl wenig verwunderlich, dass ich bei jedem Straßenhund anhalte, um ihn eine Runde zu streicheln. Bei den meisten wird schnell klar, dass sie keineswegs verlassen oder vernachlässigt sind. Vielmehr gehören die meisten zu einem Hof, einem Geschäft oder einer Wohnung. Sie stromern tagsüber herum und kehren am Abend zu Futter und Schlafplatz heim. Viele tragen den oben erwähnten Clip im Ohr: Die Tiere werden von Tierärzten beobachtet und betreut, wahrscheinlich sind sie sogar kastriert.
Manchmal ist es schwer, diese Racker zurückzulassen – sie sind einfach zu süß. Aber ich weiß, dass es ihnen hier, in ihrer geschützten Freiheit, besser geht als in meinen vier Wänden. Hier leben sie draußen und oft in Gemeinschaft, haben täglich tausend spannende Eindrücke, treffen autonome Entscheidungen und leben in ihrem Rhythmus. Was könnte ich Besseres bieten? Außer Streicheleinheiten wenig. Irgendwo wartet ein Hund in einem Tierheim, dessen Leben ich wirklich besser machen kann.
Falls Polly nicht inzwischen nach Hause gekommen ist 😉