Unfertig leben am Schwarzen Meer

Es gibt Worte, die tragen Assoziationen wie eine Schleppe hinter sich her. Für mich ist „Schwarzes Meer“ so eines: geheimnisvoll wegen der Schwärze (von der übrigens niemand so recht weiß, wie sie in den Meeresnamen gekommen ist); weit, weil es eben ein Meer ist und dazu noch weit weg und – ja, ich gebe es zu, unbekannt, weil ich vor dieser Reise nicht hätte sagen können, welche Länder es berührt. Einen Teil, die bulgarische Schwarzmeerküste, bin ich nun entlanggefahren. Ich habe Nächte am Strand und im Hotel verbracht – und Letzteres hat tiefere Eindrücke hinterlassen als die Nächte am Wasser.

Kulturschock

Mein spontan wegen Müdigkeit gebuchtes Hotel lag kurz vor der Touristenstadt Varna, und es war der erste Kulturschock für mich. Nicht Rumänien mit seinen Pferdewagen oder Dörfern ohne Telefonanbindung.
Auf booking.com hörte sich alles schick an, und google Maps gab sich alle Mühe, mich ans Ziel zu bringen – von dem ich dachte, dass es dort unmöglich sein könnte, wo ich hingeführt wurde. Straßen waren (noch) nicht existent oder aufgerissen, Bürgersteige nicht vorhanden.

Immerhin EU-gefördert!

Dafür hatte jedes Gebäude entweder eine Vergangenheit als Hotel oder sollte eines werden. Ich weiß nicht, welcher Touristenboom dort erwartet wird, aber ich weiß, dass ich dann nicht vor Ort sein will – diese Mengen dürften kaum auszuhalten sein.

Gleichzeit versank alles in Dreck und Vernachlässigung, selbst das Gebäude der Uni blieb davon nicht verschont. Die aus der Fassade gefallenen Kacheln wurden nicht etwa weggeräumt und ersetzt – nein. Vor den Gefahrenbereich kam ein Zaun, davor drei Blumenkübel, fertig.

Fassaden-Gate: Nichts hält länger als ein Provisorium.

Es gibt „unfertig“ und es gibt „unfertig“

In Rumänien haben die vielen unfertigen Häuser mich noch fasziniert. Jedes stand für einen (manchmal recht großspurigen) Traum, der Schritt für Schritt verwirklicht wird. Ist wieder Geld da, werden die Fenster eingesetzt oder die Heizungen eingebaut oder die Fassade verputzt. Das Wort „bezugsfertig“ bezeichnet in Rumänien einen völlig anderen, viel früheren Zeitpunkt als in Deutschland: wenn zwischen Innenräumen und Außenwelt nur noch gewollte Öffnungen sind.

Hier aber war vieles halbfertig – und zwar offenbar schon seit der Zeit vor den beiden schweren Erdbeben (die es gegeben haben muss, anders sind die „Straßen“verhältnisse nicht zu erklären). Baustellen wucherten zu, Zwischendecken waren eingestürzt und dienen nun als Windfang für die unendlichen Müllmengen.

You can check in any time you want but …

Tatsächlich war auch das Hotel weit davon entfernt, fertig zu sein. Offenbar hatte das Pärchen es gerade übernommen: Schriftzüge, Hinweisschilder und WLAN-Infos waren mehr schlecht als recht aktualisiert worden. Und natürlich funktionierte das WLAN nicht.

Ich war der einzige Gast, die Rezeption war nicht nur unbesetzt, sondern auch unbeleuchtet (wie der Rest des Raumes) und der etwa zwei Stunden andauernde Regen fand seinen Weg durch die Eingangstür ebenso wie durch die Balkontür in meinem Zimmer. Von den Marmorsäulen schälte sich die Marmortapete und die die schweren Vorhänge waren wahrscheinlich nur deshalb bodenlang, weil sie so das bröckelnde Mauerwerk an der Fußleiste verbargen.

Aber ich hatte ein Zimmer, ich hatte einen Balkon, Polly durfte bei mir sein und die zwei Menschen, die im Hotel arbeiteten, waren nett.

Mittig im Hintergrund ist mein Hotel – eines der wenigen Gebäude, deren Fassade vollständig ist. Links die Uni mit der kreativen Fassade.

Diese Fähigkeit, im Unfertigen zu leben, fasziniert mich. Ich kenne mich: Nach Umzügen finde ich erst dann Ruhe in einer neuen Wohnung, wenn sie „fertig“ ist. Wenn die Bilder hängen und die Vorhänge. Bis dahin starrt mich jedes To-do so fordernd an wie jemand, der mit einem Kollektenbeutel umhergeht.

Aber vielleicht ist es besser, wenn man gelassener mit Unfertigem umgeht? In das Haus einzieht, das noch eine Baustelle ist – weil es auch so schon zum Zuhause werden kann?

Und dann ist da der Dreck. In diesem Punkt merke ich mein Deutschsein so sehr, dass es mir peinlich ist – ich hab es gern sauber. Zwar habe ich auf die Frage: „Wie war es in xy?“ noch nie mit dem urdeutschen „Es war richtig schön sauber“, geantwortet – aber ich nehme es durchaus wahr, wenn es schmutzig ist. Und hier war es nicht nur schmutzig. Es war verwahrlost, verdreckt, zugemüllt – überall lagen Getränkedosen, Plastikfetzen, Milchkanister, zerfetzte Autoreifen. Wie kann man so leben? Wie kann einen das nicht stören? Stumpft man ab? Mich hat es schon angestrengt, das nur ein paar Tage zu sehen – wie geht das für ein Leben?

So kann man es auch sehen

Und gleichzeitig weiß ich, dass ich mehr davon sehen werde, dass die Lebensverhältnisse der Menschen entlang meiner Route ja nicht besser werden. Wobei „ärmlich“ ja nicht zwangsläufig „dreckig“ bedeuten muss. Zwei Erlebnisse fallen mir gerade ein:

  1. Bei einem Besuch in einer informellen Roma-Siedlung in Bulgarien waren Wege und Umfeld auch verdreckt – in der 12 qm großen Hütte aber hatte die siebenköpfige Familie es sich so gemütlich und hübsch gemacht wie irgend möglich. Vielleicht ist es Unterschied zwischen drinnen und draußen – vielleicht kümmern die Menschen sich nur um ihr häusliches Umfeld?
  2. In Südafrika habe ich einige Monate in einem Township gelebt. Irgendwann sprach ich meinen Gastvater auf die unendlich vielen Plastiktüten an, die durch die Gegend flogen – warum waren die Menschen so nachlässig, warum kümmerte sich niemand darum? Seine Antwort: „Für uns ist das ein Zeichen von Wohlstand. Früher brauchten wir jeden Fetzen Plastik, um unsere Hütten abzudichten. Heute haben wir richtige Fenster, viele Häuser haben sogar Wände statt zusammengesuchter Wellblechteile. Es ist also ein gutes Zeichen, wenn Plastik so ungenutzt herumliegt.“

Es gibt Dinge, Perspektiven und Gründe, auf die würde man im Leben nicht kommen.


Rumänien – Herzensland mit Widersprüchen

Ich gebe zu: So richtig kenne ich Rumänien nicht. Aber das ist nicht meine Schuld, sondern die der Maramures. Dass ich in diese traditionelle, wald- und hügelreiche Region Nordrumäniens verliebt bin, dürfte inzwischen (auch wegen dieses Artikels) bekannt sein 😉

Ein Teil von mir wollte sich in Breb sofort für eine (Achtung, Neudeutsch) Workation einnisten. Ein paar Wochen hier an einem Buch zu arbeiten und einfach zu sein, muss doch traumhaft sein! Doch gleich kam die Frage auf: „Was würde ich damit für die Region tun? Wäre ich nicht nur Schmarotzerin?“

Sicher, ich würde im lokalen Mini-Markt, dem „Magasin Mixt“, einkaufen, der rund um die Uhr geöffnet ist: Wer den Hof betritt, klingelt – jemand kommt und man kann einkaufen. Das wäre es dann aber auch. Gut, ich würde das eine oder andere Mal ein Gläschen Horinka genießen, den vom Nachbarn der Ladeninhaberin gebrannten Schnaps mit 50% (ich kann es noch immer nicht glauben). Würde ich selbst irgendwann brennen? Wohl kaum …

In einem Land vor unserer Zeit

Der Charme der Region besteht aus alten, traditionell gebauten Häusern, vielfältig bewirtschafteten Gärten, grasenden Kühen und über die Schotterstraße trottenden Schafherden.

Doch all das ist so zauberhaft, weil die Menschen des Ortes hart arbeiten – und zwar so mühsam, wie es schon vor Hunderten von Jahren war.

Bis ins hohe Alter arbeiten alle. Diese Oma brauchte eine Minute für drei Schritte, hangelte sich am Haus entlang und trug ihren Teil zum gemeinsamen Leben bei. Bei uns in Deutschland sitzen wesentlich fittere Ommas in Heimen – zur Sinnlosigkeit verdammt.

Ich tu mich noch immer schwer damit, Menschen zu fotografieren. Umso mehr hab ich mich gefreut, dass ich diesen Schäfer knipsen durfte. Er hatte seine Herde langsam, gemütlich durch das Dorf auf die Wiese getrieben (Polly hatte Angst vor den Schafen, ist das zu glauben?). Könnte er so ein Leben heute noch einmal beginnen?
Viele Restaurants und Läden der Region verwenden heimische Kuh-, Schafs- und Ziegenmilch für ihre Produkte – welcher Lebensstandard ist damit für Schäfer wie ihn möglich? Und welchen will er überhaupt?

Wäre unsereins bereit, so zu arbeiten, so zu leben? Es ist ja wundervoll romantisch, diese Szenen über den Gartenzaun zu fotografieren – aber das als eigenes Leben?

Welche Zukunft hat dieses Mädchen, das mir ein selbstgebasteltetes Armband verkauft?

Ab dem späten Nachmittag sitzen Menschen aller Altersgruppen auf einfachen Bänken vor ihren Häusern. Sie plaudern, lachen, gucken, dösen – und wirken zufrieden. Oder ist das meine Projektion?

Arrgghhhh … All Diese Fragen und Widersprüche arbeiten in mir. Kann es diese zauberhafte Region so nur geben, wenn ihre Menschen nicht in der „Moderne“ ankommen? Ich fürchte, es ist so.

 

Kunsthandwerk

Die Maramures ist reich an Gehölzen und alten Wäldern (noch, denn natürlich gibt der Westen sein Bestes, diese für schicke Möbel abzuholen). Und indem die Menschen seit jeher mit dem arbeiten, was sie zur Verfügung haben, entstand und entsteht Wunderschönes:

Diese Zäune werden ohne Nägel, ohne Leim gefertigt. Die langen Äste werden so durch die Pfosten geführt, dass ein stabiler und dekorativer Zaun entsteht.

Natürlich müssen dafür die passenden Äste gesammelt werden:

Auch die riesigen Hoftore bestehen aus Holz: Die Muster vereinen traditionelle Elemente und Symbole für Ereignisse in der jeweiligen Familiengeschichte.

Die Tore bestehen aus einer Tür, durch die die Bewohner treten können, und einem großen, zweiflügeligen Tor, durch das die Karren bzw. heute auch Autos fahren.

 

Was ich ich der Maramures gesehen habe, setzt sich im Rest Rumäniens fort: Tradition geht mit eingeschränkter Infrastruktur und Armut zusammen – Moderne mit besserer Infrastruktur und neuen Häusern, die selbst dann charakterlos oder sogar hässlich sind, wo sie traditionelle Elemente imitieren.

Der egoistische Teil von mir wünscht, Rumänien möge arm und schön bleiben.